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Ein Seil aus drei Schnüren reisst nicht so schnell - Nachruf auf die Philosophin Annemarie Pieper

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Annemarie Pieper war von 1981 bis 2001 Professorin der Philosophie an der Universität Basel. Sie ist am 15. Februar 2024, nur wenige Wochen nach ihrem 83. Geburtstag, gestorben. Mit ihr hat die Philosophie eine klare, engagierte und menschliche Stimme verloren.

Von Kierkegaard nach Basel und zurück

Annemarie Pieper wurde am 8. Januar 1941, mitten im Krieg, in Düsseldorf geboren. Da sie ein Faible für Literatur und Sprache besass, und sogar den Wunsch verspürte, Schriftstellerin zu werden, studierte sie ab 1960 Sprachen an einem Dolmetscher-Institut und parallel dazu Philosophie, Germanistik und Anglistik an der Universität des Saarlandes. 1967 promovierte sie ebendort, als erste Frau am Philosophischen Institut, über Sören Kierkegaard und wurde die erste wissenschaftliche Mitarbeiterin. Zwei Jahre später folgte sie ihrem Doktorvater Hermann Krings nach München, wo sie sich 1972, unterstützt durch ein Stipendium der DFG, zur Frage der Ethik als autonome Wissenschaft habilitierte und als Dozentin und später Professorin arbeitete. Annemarie Pieper gehörte zu den ersten, die analytische Ethik und Transzendentalphilosophie miteinander verbanden. Diese doppelte Stossrichtung fand ihren Ausdruck etwa in der editorischen Mitarbeit an der Herausgabe von Schellings Schriften und in der Übersetzung von G.E. Moores Grundprobleme der Ethik.

Nach ihrer Berufung nach Basel, wiederum als erste Frau auf eine Professur in der Fakultät, konzentrierte sie sich auf die Lehre der praktischen Philosophie, was sich in der Publikation von Ethik und Moral. Eine Einführung in die praktische Philosophie (1985) niederschlug. Diese Einführung wurde zu einem Standardwerk und fand angereichert durch zahlreiche Ergänzungen eine endgültige Form in Einführung in die Ethik (2007). In Basel wandte sie sich verstärkt dem Existenzialismus von Albert Camus, dem Denken Friedrich Nietzsches und der feministischen Ethik zu. Der Zarathustra-Kommentar ‚Ein Seil geknüpft zwischen Thier und Übermensch‘ (1990) wurde zu einem Klassiker der Nietzscheforschung. Annemarie Pieper knüpfte einerseits an die Basler philosophische Tradition durch aktive Mitwirkung in der Nietzsche-Edition und der Karl-Jaspers-Stiftung an, andererseits nahm sie das Thema ihrer Promotionsarbeit wieder auf. Als ob sich ein Kreis schlösse, beendete sie ihre akademische Laufbahn nach 33 Jahren mit der Publikation der grossartigen Einführung Sören Kierkegaard (2000).

Der erste Lebenstraum als zweite Karriere

Annemarie Pieper liess sich 2001 vorzeitig pensionieren. Sie hatte ein Studium in einem von Männern dominierten Fach aufgenommen und war in diesem Fach wiederholt die erste Frau gewesen, in Saarbrücken, in München, in Basel. Wie sie in ihrer kurzen Autobiographie „Umwege zur Philosophie“ (1996) deutlich machte, sahen nicht wenige ihrer männlichen Kollegen mit Argwohn auf ihre kompromisslose Autonomie, und sie hatten sie immer wieder spüren lassen, dass sie nicht willkommen war. Es ist nicht leicht, eine Pionierin zu sein, und ihr Abschied erfolgte nicht ohne Erleichterung gegenüber einer Institution, die sich als nur langsam lernfähig erwiesen hatte.

Nach ihrer Emeritierung startete Annemarie Pieper eine neue Karriere, die wiederum zwanzig Jahre dauern würde. Sie zog sich nicht ins Privatleben zurück, sondern fand eine neue Tätigkeit in einem dritten Raum jenseits von Arbeitsplatz und Privatleben. Sie wurde zu einer öffentlichen Denkerin, die durch zahllose Vorträge, Interviews, Essays, Bücher und Weiterbildungen unzählige Menschen ausserhalb der akademischen Philosophie erreichte. Mit Büchern wie Glückssache. Die Kunst gut zu leben (2001), Selberdenken (2002), Nachgedacht (2014) oder Denkanstösse (2021) und drei Romanen, darunter die provokante Klugscheisser GmbH (2006) verwirklichte sie ihren Lebenstraum einer freien Schriftstellerin. Die Corona-Krise unterbrach diese lebhafte Tätigkeit und fesselte sie, wie viele andere, an das Homeoffice. Ausgerechnet ein Fahrradunfall im Herbst 2023 schwächte die passionierte Radfahrerin erheblich. Dennoch dürfen wir uns Annemarie Pieper in ihren letzten 20 Jahren, nach der Sisyphos-Arbeit am akademischen Steilhang, als glücklichen Menschen vorstellen.

Aber inmitten all deiner Philosophie bleibe stets Mensch

Anlässlich des 80. Geburtstages von Jeanne Hersch 1990 begrüsste Annemarie Pieper ihre berühmte Genfer Kollegin mit den Worten: „Jeanne Hersch hat Philosophie nie bloss gelehrt, sondern zu ihrer eigenen Sache gemacht. Philosophie ist für Jeanne Hersch eine durch und durch menschliche Angelegenheit, und ihr Gegenstand sind die menschlichen Dinge.“ Dasselbe darf man ohne Abstriche über Annemarie Pieper sagen. Sie hat die Praktische Philosophie, die Ethik, nie nur gelehrt, sondern sie zu ihrer eigenen Sache gemacht.

Der Kern ihres Nachdenkens waren die menschlichen Dinge Verantwortung, Glück, Gut und Böse, Existenz, Denken, Selberdenken und immer wieder die Freiheit als Geschenk und als Aufgabe. Sie wollte diese Themen auch unter die Menschen ausserhalb der Universität als Rednerin, Diskutantin, Essayistin und Schriftstellerin bringen. Annemarie Pieper war in alledem stets als Mensch spürbar. Sie war entschieden und anteilnehmend, voller Gewissenhaftigkeit und voller Humor, auf Distanz und in der Nähe. Als Professorin und freie Schriftstellerin hat sie die Philosophie gelehrt, indem sie diese immer wieder neu zu ihrer Sache gemacht hat.

Annemarie Pieper hat die Philosophie als akademisches Fach grundernst genommen. Seit ihrer Habilitation verstand sie die Ethik als eine autonome Wissenschaft mit einem eigenen Gegenstand, das moralische Sollen, und eigenen Methoden. Ethik als autonome wissenschaftliche Disziplin und ein ethisches Leben in Selbstbestimmtheit gingen für Annemarie Pieper Hand in Hand. Drei Dinge — die deskriptive Schärfe des analytischen Blicks auf die Moral, der transzendentalphilosophische Anspruch einer Letztbegründung der Ethik und die existenzielle Bürde einer freien, aber verantwortungsbewussten Existenz — bildeten in Annemarie Piepers Leben und Werk eine Einheit: Ein Seil aus drei Schnüren reisst nicht so schnell.

Markus Wild (Universität Basel)