Nina Noeske, Neue Zeitschrift für Musik, 1/2024:
"Wer die Monografie Christoph Haffters durchgearbeitet hat, hat nicht nur einen umfassenden Überblick insbesondere über das Feld der Gegenwarts(kunst)musik seit etwa 1980 mitsamt den dazugehörigen Traditionen Neuer Musik des gesamten 20.Jahrhunderts gewonnen, sondern auch erfahren, zu welchen Höchstleistungen philosophische Argumentation – zumal wenn sie so differenziert verfährt wie in vorliegendem Buch – in der Lage ist.
In sechs großen Kapiteln, von denen Kapitel II – eine Fallstudie anhand von Simon Steen-Andersens Piano Concerto (2014) – durch seine Arbeit am konkreten Beispiel hervorsticht, unternimmt Haffter nichts Geringeres als den Versuch einer Beantwortung der Frage: «Wie ist Musik heute als Kunst möglich?» (S.9). Ausgehend von der Feststellung einer gegenwärtigen Krise der Kunstmusik – denn diese selbst zweifele «an ihrer eigenen Möglichkeit» (S. 9) –, geht der Autor davon aus, dass ein gelingendes Werk heute «seine eigene Unmöglichkeit austrägt» (S.10).
Die kritische Theorie Theodor W.Adornos zieht sich wie ein roter Faden durch die Arbeit, wird abgewandelt, gegenwärtigen Tendenzen angepasst, anders formuliert, letztlich aber bildet sie – auch in ihrer Positivismuskritik – die implizite oder explizite Folie, mit der, immer wieder auch in kapitalismuskritischer Stoßrichtung, dialektisch argumentiert wird.Ausgegangen wird dabei von einem, wie der Autor es nennt, «ästhetischen Materialismus», dessen Grundannahme vereinfacht lautet, dass menschliches (ästhetisches) Denken, gleichsam materiell, immer von etwas anderem als sich selbst abhängt (S. 13 f.). (Über die Begrifflichkeit lässt sich streiten.)
Die vier Grundbedingungen, die laut Haffter die gegenwärtige Krise der Musik als Kunst ausmachen, lauten: Sprachverlust, Kulturindustrie, elektronischer Klang,Verschränkung der Künste (S. 10).Welche Tradition diesen zugrunde liegt und wie der aktuelle musikalische Diskurs hierauf jeweils reagiert, welche Strategien angewandt werden, um der Krise zu begegnen, wird im dritten Kapitel ausführlich erläutert. Immer wieder konstatiert der Autor für einzelne zeitgemäße kompositorische Ansätze eine implizite Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Wirklichkeiten bzw. Produktionsverhältnissen; Brian Ferneyhoughs algorithmisches Komponieren der 1990er Jahre etwa wird mit der «zeitgleich sich etablierenden Scheinrationalität der Finanzökonomie» in einen Zusammenhang gebracht (S.112) und beinhalte damit «eine Darstellung spätbürgerlicher Desintegration» (S. 112 f.). Das Gelingen jener Werke wiederum, die – wie etwa bei Michael Beil oder Alexander Schubert – mit «automatenhaften Instrumentalgesten» auch im digitalen Medium arbeiten, hänge davon ab, «ob sie in der Negativität dieser Entfremdung so etwas wie ei nen Funken zu schlagen vermögen, der über sie hinausweist, oder ob sie sich letztlich mit der Entfremdung abfinden» (S.340).
Ausführlich widmet sich Haffter am Ende des sechsten Kapitels auch konzeptualistischen Ansätzen seit etwa 2010; auch die These vom «erweiterten» oder «aufgelösten» Musikbegriff (Johannes Kreidler) wird kritisch diskutiert. Kaum ein Argument, das der Autor nicht an Beispielen – etwa von Mark Andre, Gérard Grisey,Georg Friedrich Haas, Clara Iannotta, Johannes Kreidler, Helmut Lachenmann,Trond Reinholdtsen, Rebecca Saunders oder Jennifer Walshe – exemplifiziert: ein Glücksfall, wenn Philosophie derart kenntnisreich von Musik redet.
Während Kapitel 5 («Das Werk als Fragment») eher sichtend verfährt, stecken andere Kapitel voller Pointen – etwa die Kritik in Kapitel 4 an den reinen «Buchführungsanalysen», die sich «zu wenig auf das Werk als Artikulation eines Gedankens einlassen» (S. 204), oder die Kennzeichnung bildungsbürgerlichen Bescheidwissens – auch hier im Fahrwasser Adornos – als «infantile Lust des Wiedererkennens» (S. 77). Die stellenweise notwendige Geduld der Leserin wird immer wieder durch schlagende Beobachtungen und fulminante Analysen belohnt.
Zu hoffen ist auf weitere Untersuchungen dieser Art, die sich dem philosophischen Potenzial der Gegenwartsmusik mittels des ästhetischen Urteils bzw. Kunsturteils widmen, schrittweise erweitert «hin zu einer weltgeschichtlichen Reflexion auf Musik» (S. 11). Dann wäre auch die – zweifellos ebenfalls kunstfähige – Popmusik einzubeziehen."